Ausgabe November-Dezember 2023

Tanz zwischen Nationen

Frauenstreik Basel. Foto: Ludger Storcks

Text: Parvathi Ramanathan
Tänzerin, Forscherin und Schriftstellerin, mit gelegentlichen Ausflügen in die Poesie.

 

Vor Kurzem stand ich an einem Nachmittag in einem Kreis von Frauen, die aus verschiedenen Teilen der Welt kamen und momentan in Deutschland Asyl suchen. Als Moderatorin dieser Zusammenkunft lud ich alle ein, die Tanz- oder Bewegungssprachen, die sie in ihren Körpern tragen, vorzustellen. Einige der älteren afghanischen Frauen legten ihre Krücken beiseite, um mir die anmutigen Bewegungen des Attan zu zeigen. Eine syrische Frau, die eine Abaya trug, band sich meinen Schal tief in die Taille und tanzte mit voller Hingabe den Raqs Sharqi. Als wir uns einer deutschen Frau in der Runde zuwandten, die etwas Salsa-Fußarbeit mit uns teilte, war ich überrascht, als sie sagte: "Aber eine deutsche Tanzform gibt es sozusagen gar nicht."

Berlin zieht Tanzschaffende aus der ganzen Welt an, die die Stadt zu ihrer Heimat und ihrer Bühne machen. Die Tanzsprachen anderer Länder sickern in diese Stadt und in dieses einst geteilte Land, und in der Berliner Tanzszene ist diese Fülle zu spüren. Ich frage mich jedoch, ob nicht einige der historischen Bewegungspraktiken dieser Region auf gewisse Weise verleugnet oder zurückgelassen wurden? Die Geschichte Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus und der Besetzung durch die Alliierten führte zu einer Art korrigierendem Säuberungsprozess, dessen Auswirkungen vielleicht auch in kulturellen Praktiken spürbar sind. Mit dem Ende der DDR und der raschen Verabschiedung von allem Ostdeutschen in der politischen Landschaft wird auch das Körperwissen vieler Bürger*innen der heutigen Bundesrepublik verleugnet. Die Tendenz, traditionelle Praktiken schnell mit politisch konservativ oder spießig zu assoziieren, mag zu einer Entfremdung von bestimmten körperbezogenen Praktiken geführt haben. "Line-Dance ist nur was für alte Leute und außerdem zu kitschig", erklärt mein Freund, der sich schämt, den ersten nationalen Wettbewerb in dieser Disziplin gewonnen zu haben. Natürlich liegt all diesen Positionen der Ablehnung und Verweigerung auch eine Klassenstruktur zugrunde – und ein Wunsch, die Zugehörigkeit zu einem politischen und sozialen Spektrum auszudrücken.

In der freien zeitgenössischen Tanzszene gibt es heute mit Sicherheit ein Interesse an Praktiken des frühen 20. Jahrhunderts wie dem Ausdruckstanz, wobei das Erbe von Valeska Gert allmählich wiederentdeckt und zelebriert wird. Es gibt außerdem vermehrte Forschung zu politisch motivierten erfundenen Tänzen aus Ostdeutschland, die die Arbeits- und Lebensbedingungen in der DDR aufgreifen und kommentieren. Meine (begrenzte und unvollständige) Beobachtung der freien Berliner Tanzszene zeigt jedoch, dass sie sich in einer gewissen Selbstbeschränkung befindet – in einem ständigen Prozess der ‚Erforschung von‘ oder des ‚Widerstands gegen‘ die eigene Geschichte. In Berlin, wo es manchmal so scheint, als sei die Zeit für eine Weile stehen geblieben; in Berlin das nach einer spekulativen Zukunft greift, frage ich mich, ob wir einen Tanz schaffen können, der der Geschichte entspringt? Zwischen dem traditionellen Schuhplatteln und den Side-Bop-Moves zu Techno-Beats gibt es viele Volkstänze, die die deutsche Landschaft durchdringen. Können wir uns in einer Zeit, in der wir die Idee des Nationalstaates aufzulösen versuchen, dennoch vom körperlichen Wissen des Landes inspirieren lassen und zwischen, über und durch die Nationalstaaten tanzen?

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