Ausgabe September-Oktober 2023

Reisen im Traumkörper

Fortsetzung fantastischer Welten, inspiriert von Carmen Maria Machados "Im Traumhaus“.

A fruit and nothing more. Foto: Parvathi Ramanathan

Text: Parvathi Ramanathan
Tänzerin, Forscherin und Schriftstellerin, mit gelegentlichen Ausflügen in die Poesie.

 

Traumkörper als Instinkt-Retriever

Du wachst auf als das Flugzeug landet, ein Baby weint, Deine Ohren tun weh. Der akute Schmerz drückt auf Deinen Kopf, während Du auf die nahende Landung schielst. Der verzweifelte Säugling ein paar Reihen weiter vorne weint wahrscheinlich aus demselben Grund. 

Dieser Gedanke ist irgendwie erfreulich.

Als Erwachsener unterdrückt die Gesellschaft weitgehend Deinen Instinkt, zu weinen oder laut zu schreien. Aber zumindest in dieser Hinsicht ist Dein Körper immer noch wie der des Babys – Eure beiden Körper versuchen auf ihre ursprüngliche Weise, die Luft zu kanalisieren, damit es in den Ohren ploppt. Zumindest auf diese Weise bleibt der Instinkt erhalten.

 

Traumkörper als Efeu-Lunge

die Lunge blüht

wie Efeu im Sommer

sich windend, dem Licht folgend

sie schwebt aufwärts in verdrehtem Zittern,

dreiundzwanzig und eine halbe Note zu wenig,

Musik, ein Spektrum.

die Lungen entfalten sich

wie flatternde Elefantenohren

weich, fleischig, saftig und dann flatternd,

flatternde, schwingende Schmetterlingsflügel.

das Efeu-Geflecht der Lunge

schwebt in ungesungenem Trillern.

was mag hier teuflisch sein?

was mag kun sein, was mag om sein?

eine Efeustimme

sie war schon da, und auch schon weg.

 

Traumkörper als Dokumentarfilm

Der Film beginnt viel früher, zeigt viel mehr. An diesem Tag rollt die Tänzerin den Linoleum-Tanzboden im Studio eines berühmten Choreografen aus und putzt ihn. Der Job ist besser bezahlt als der Mindestlohn und erlaubt es, gelegentlich einen Workshop zu besuchen. Der andere Job, das Schreiben von Social-Media-Posts für einen Veranstaltungsort, hält sie über die Tanzszene der Stadt auf dem Laufenden. Nicht jeder Minijob hat diese Vorteile. Nicht jeder Teil des Tages einer Tänzerin wird von einem Publikum beobachtet. Nicht die morgendlichen Läufe oder das zusätzliche Training. Niemand schaut bei den Proben zu. Die Mappe mit den abgelehnten Förderanträgen bleibt unsichtbar, ebenso wie die nächtlichen Stunden, in denen man über sie nachdenkt. Auch die Heureka-Momente, wenn eine Idee aufblitzt, werden nicht gesehen.

Wenn alles gut geht, sieht das Publikum nur den Tanz. Der Körper hingegen ist ein Vollzeit-Dokumentarfilmer.

 

Traumkörper als Objekte vor und nach der Existenz

Vorher

(überirdisch gefunden)

Gegenstand

Status

Packung Kondome

unbenutzt

Ein Exemplar von Raising Good Humans: A Mindful Guide to Breaking the Cycle of Reactive Parenting, and Raising Kind, Confident Kids

halb gelesen

Quittungen von pränatalen Yogakursen

zurückerstattet

 

Nachher

(unter der Erde gefunden)

Gegenstand

Status

1 lila Plastikknopf, versehentlich verschluckt

hat sich 40 Jahre lang nicht zersetzt

1 Herzschrittmacher

konnte wiederverwendet werden

2 goldene Backenzähne

jetzt viel wertvoller als zum Zeitpunkt ihrer Einsetzung

Kniegelenkersatz aus Metall

wurde in die Schlammkanäle der Ameisenkolonie eingearbeitet

Lieblingsohrringe

ein Stecker fehlt

Ballettschuhe

werden jetzt bei einem Ameisenmarsch verwendet

 

Traumkörper als zufälliges Universum

Wenn Ihr in Euren Dreißigern seid und Eure Teenagerjahre hinter Euch habt, wisst Ihr, dass jedes Objekt, jede Pflanze, jede Frucht, jedes Gebäude, jeder Damm, jede Landschaft, jeder Baum usw. NICHT den menschlichen Genitalien ähnelt. Aber zufälligerweise können sie so aussehen, als würden sie es.

 

 

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