Ausgabe September-Oktober 2023

Fiktive Erinnerungen und ihre Kontexte

Erweiterte Version der Untertitel von live gerenderten Filme, die in der Ausstellung Broken Performances gezeigt wurden (BADCo. 2013) (siehe auch: http://badco.hr/en/publications-item/whatever-dance-toolbox/ https://www.memoryoftheworld.org). Foto: Kirsten Maar

Wie entsteht eigentlich der Tanz-Kanon, was fällt aus dem Kanon heraus und warum? Und wie hängen unsere persönlichen und kollektiven Prägungen und Erinnerungen damit zusammen? Die Tanzwissenschaftlerin Kirsten Maar untersucht die Begriffe Kanon und Archiv als Orte der Auseinandersetzung und beleuchtet die prekären Räume zwischen Geschichte, Erinnerung und Fiktion.

Text: Jun.-Prof. Dr. Kirsten Maar
Theater- und Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin

 

Während ich diesen Text schreibe, sitze ich im Archiv des Tanz-Kollektivs BADco. aus Zagreb, das – 2000 gegründet – seit 2020 nicht mehr performt, sondern dessen Mitglieder sich nun der konkreten stadtpolitischen Arbeit in der kroatischen Hauptstadt widmen. Das ‚Nachleben‘ der Company befindet sich seitdem in Rijeka im Museum für moderne und zeitgenössische Kunst. Sicher wäre ich nicht hier, wäre ich nicht in den frühen 2000er Jahren im Tanzquartier Wien auf die Performance-Zeitschriften Maska, Frakcija und Walking Theory TkH gestoßen, hätte nicht 2012 Janez Janša  die Valeska-Gert-Gastprofessur an der FU übernommen und das Performancekollektiv Küche Elf wiederentdeckt, hätte sich nicht die Kooperation Curating in Context mit der Tanzfabrik Berlin, Stockholm, Skopje und Zagreb ergeben, wären da nicht die Begegnungen mit den Menschen hinter den Texten und Projekten – mit Ana und Bojana, Bojana, Biljana, Jasna, Nikolina und Sergej u.v.a. –, und gäbe es nicht das Dramaturgie-Projekt mit Mila Pavićević, das sich den Entwicklungen der freien Szene aus dem ehemaligen Jugoslawien widmet. Inwiefern ist mein persönlicher Bezug Teil anderer Erzählungen? Und wäre das, was als Tanzgeschichte in den Archiven landet und als Kanon betrachtet wird, abhängig von den vielen kleinen Zufällen und ihren Zusammenhängen? Wie BADco. haben zahlreiche Choreograf*innen und Dramaturg*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien die Tanzentwicklungen des konzeptuell ausgerichteten Tanzes im europäischen Raum seit den 2000er Jahren wesentlich mitgeprägt. Die Fragen nach Produktionsbedingungen und kollektiven Arbeitsweisen, nach Dramaturgie als problemorientiertem Denken, nach Artivism, Öffentlichkeit oder Transindividualität u.v.m. trugen bei zur Entstehung einer spezifischen Genealogie – selbstverständlich aber lassen sich auch alternative Geschichten erzählen bzw. sind diese mit anderen verflochten.

Viele der künstlerischen Arbeiten jedoch sind weniger bekannt als die theoretische Arbeit. Was sind die Kriterien dessen, was als Kanon gilt? Was fällt aus welchen Gründen aus dem Kanon heraus? Welche Institutionen sind an der Bildung des Kanons beteiligt? Welche Rolle nehmen Akteur*innen des Kunstfeldes bzw. der Wissenschaften ein, welche Rolle spielen die Praktiken in Ausbildung und Vermittlung? Betrachtet man den Kanon als Ort der Auseinandersetzung und nicht als traditionsbewusstes Unternehmen eines verpflichtenden Zusammenhangs, sondern versteht den Kanon, wie es vor allem feministische und postkoloniale Ansätze verfolgt haben, als ein auf die Zukunft ausgerichtetes Unterfangen, das den Standpunkt eines statischen Hier und Jetzt durch aktuelle Einschreibungen und Verschiebungen immer wieder neu konfiguriert, können alternative Positionierungen, gegenläufige Geschichtsschreibungen und damit auch andere Schwerpunkte innerhalb der Künste gesetzt werden.

Inwiefern sind dabei die eigenen Erfahrungen und Erinnerungen von Bedeutung? Die Situiertheit unseres Wissens und die „partial perspective“ (Haraway 1988), aus der wir unsere Erinnerungen beziehen und umgekehrt, sind unauflöslich mit einem kollektiven Gedächtnis verbunden, sie verweisen auf die Verflochtenheit von Geschichte/n und letztlich darauf, wie Geschichte ‚gemacht‘ wird. Hierüber setzen wir unsere Erfahrungen in eine Beziehung zu unserer Zeit, und aufgrund dieser Bezüge ist es uns überhaupt möglich unser Denken zu verändern.

Eng damit verbunden ist demnach auch die Frage nach dem problematischen Begriff der ‚Zeitgenossenschaft‘ (den ich hier dennoch als allseits gebräuchliche Bestimmung vorerst weiterverwende). Was meint Zeitgenossenschaft, um wessen Zeitgenoss*innen geht es, was macht das Spezifische des In-einer-Zeit-verortet-Seins aus, welche Narrative eignen der jeweiligen Zeit und wie steht der Begriff zur Frage des Repertoires, des Kanons und zur Geschichte? Was bedeutet die Bezeichnung „zeitgenössischer Tanz“?  Wie sehr ist der Zugang für ein Publikum von Formaten und Kontexten bestimmt? Denn Zeitgenossenschaft meint in diesem Zusammenhang nicht nur ein „together in time“, eine Synchronizität, sondern gerade die Bezogenheit verschiedener Zeitlichkeiten innerhalb von Präsens und Präsenz, Gegenwart und Gegenwärtigkeit und bricht so mit der Vorstellung einer linearen Fortschrittsgeschichte. Damit werden allerdings auch lange Zeit gültige Kategorien von Epochen, Definitionen von Stilen und Moden ebenso infrage gestellt wie das Verhältnis von Moderne, Post-Moderne und ‚Zeitgenössischem‘, wie es insbesondere auch in den Zuschreibungen des ‚zeitgenössischen Tanzes‘ thematisiert wird. Der Bezug auf Geschichte wird so entlang von Geschichten und in ihrem Neben- und Ineinander verständlich.

Doch auf welche Referenzen stützen wir uns, wenn wir auf Tanz/Geschichte/n schauen? Wie werden Geschichte/n erzählt, erinnert und archiviert? Diese Frage ist eng verbunden mit Fragen von Dekolonisierung und ihren epistemologischen Bedingungen, ebenso wie mit jenen Praktiken, mittels derer Tanz weitergegeben und dabei verändert wird. So muss auch nach den methodologischen Herangehensweisen gefragt werden und inwiefern diese der transdisziplinären Inspiration durch andere Felder bedürfen: Ethnografische Ansätze, queere kuratorische Praktiken, die Betonung der Bedingtheit unseres Wissens sowie auch Formen der Fiktionalisierung und des Storytellings haben in den vergangenen Jahren neue Schwerpunkte gesetzt und wurden für die Arbeit am und mit dem Archiv produktiv gemacht. Wie können wir zurückverfolgen, was bislang unsichtbar und ungehört blieb? Welche Geister werden wachgerufen und erscheinen in den Verflechtungen und den Prozessen der Verkörperung von Geschichte/n und welche Haltung im Umgang mit dem archivarischen Material oder den Repertoires verlangen sie?

In „The Archive and the Repertoire“, unterscheidet Diana Taylor zwischen dem Archiv als der Sammlung schriftlicher Dokumente, einer westlich-europäischen Idee von angesammelten ‚Fakten‘, wohingegen das Repertoire die Bewegungen unserer Körper, sowie die zumeist überhörten Stimmen und Klänge von Praktiken versammelt. Hier gälte es also zuzuhören, nachzuspüren, denn wir werden nur etwas erfahren, wenn wir genau hinhören und nicht erneut in die eingeübten Gewohnheiten der Klassifizierung, Kategorisierung und Zuschreibung verfallen. So erfordern die Geschichten, die bislang nicht im Mittelpunkt standen, auch neue Erzählweisen; sie vermitteln sich oft in oral histories und diese herstories sind mit Ursula K. Le Guin (1986) als eine feministische Erweiterung des Genres der science fiction zu verstehen, die das Potenzial der Erzählung für das Verständnis der Wirklichkeit neu entdeckt (Mehl 2021).

Die Idee der Moderne wie auch der Postmoderne oder der ‚Zeitgenossenschaft‘ wurden und werden aus einer westlichen Perspektive definiert (Vázquez 2020). Solch dysfunktionale Periodisierungen erweisen sich jedoch als unfähig, globale Diversität anzuerkennen. Sie basieren auf einem Modell von Geschichtsschreibung, das Geschichte als linear, unumkehrbar und fortschrittsorientiert versteht, wohingegen andere Kulturen und Praktiken offene, z.B. zirkuläre Zeit- und Geschichtskonzepte entwickeln, in denen Geschichte mit Erfahrung verknüpft wird, die wiederum durch das Berichten und Reflektieren als Wissen wirksam werden kann. Die Aufteilung zwischen chronologischer Zeit und Erfahrungszeit hatte zum Ziel, diese zu kategorisieren und zu sequenzieren und sie lesbar zu machen, indem man einem normativ-kapitalistischen Ideal von Fortschritt und individueller Kreativität innerhalb einer global forcierten 24/7-Verfügbarkeit folgt.

Das Zusammendenken unterschiedlicher Zeitschichten hingegen lässt sich im „as if“ als produktiver Akt der Imagination und als stets kollektiv zu denkende operativ-heuristische Fiktion (Osborne 2016 u.a.) produktiv machen. Vielleicht geht es also eher um die Zwischenräume, die von Geschichten und ihren Untoten bevölkert sind und Verbindungen zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bezügen herstellen. Auf diese Weise können wir Geschichte und Erinnerung als „Zusammenleben mit den Gespenstern“ konzeptualisieren.

Die Verweigerung der westlich-europäischen Wissenschaftsgeschichte, den eigenen Standpunkt zu reflektieren, geht einher mit einem kolonial geprägten Neutralitäts- und Objektivierungsanspruch und wird erst seit Kurzem aufgebrochen und herausgefordert. Insofern sind auch die Methoden der Tanzwissenschaft, ihre Distribution und Zugänglichkeit, zu befragen auf ihre Analogien, Unterschiede und Korrespondenzen zum Archivieren, Sammeln und dem Kuratorischen als choreografischer Praxis – einer Praxis, die menschliche und nicht-menschliche Körper versammelt und sich die Zeit nimmt, sich um sie zu kümmern und mit Sorgfalt zu behandeln (curare), sie in Beziehung zu setzen, sie zu kontextualisieren. Die Ebene der Kontextualisierung ist in diesen Zusammenhängen von Bedeutung, denn da die Körper nicht allein für sich existieren, können sie nur im Zusammenhang entfaltet werden, operativ werden und zueinander sprechen.

 

p.s. The personal is political: Eng verbunden mit dem Anspruch auf die eigens perspektivierten Geschichten ist die Konzeption eines „Archive of Feelings“, wie es die feministische Theoretikerin Ann Cvetkovich entwirft (2003). Sie beschreibt die vielen während der AIDS-Krise von Lesben und LGBTQs gegründeten kleinen Archive, die nicht nur die Szene unterstützten, sondern auch safe spaces für die community bereitstellten. In diesem Sinne schufen sie nicht nur einen gemeinsamen Ort, sie ermöglichten auch eine Öffnung auf die Gesellschaft und eine zunehmende Anerkennung. Vor allem aber eröffneten sie eine andere Form der Imagination des Zusammenseins.

 

Literatur:

  • Ann Cvetkovitch, An Archive of Feelings, Trauma, Sexuality, and Lesbian Cultures, Duke UP 2003.
  • Donna Haraway, “Situated Knowledge: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective”, in Feminist Studies, 14/3, 1988, p.575–599.
  • Peter Osborne, Anywhere or Not at all, Philosophy of Contemporary Art, Verso 2013, zit. in: Jacob Lund: Anachrony, Contemporaneity, and Historical Imagination, in der Reihe The Contemporary Condition, Aarhus/Sternberg Press 2019.
  • LeGuin, Ursula K. The Carrier Bag Theory of Fiction (1986), Spector books 2021.
  • Isabel Mehl, Im Zeichen des Zweifel(n)s. Madame Realism oder: Die Funktion der Fiktion in der Kunstkritik, edition metzel, 2022.
  • Diana Taylor: The archive and the repertoire. Performing cultural memory in the Americas, Durham UP, 2003.
  • Rolando Vázquez, Vistas of Modernity – Decolonial Aesthesis and the End of the Contemporary, Amsterdam 2020.

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